Feministische Theorie konsequent weitergedacht und praktisch umgesetzt
Bettina Zehetner verbindet in ihren weitreichenden Reflexionen verschiedene Ansätze feministischer Theoriebildung (Egalitätsanspruch, Differenzansatz, De-/Konstruktivismus) mit den Potenzialen ihrer Umsetzung in der psychosozialen Beratungspraxis. Sie zeigt, wie sich der Beratungskontext verändert, wenn auf ein „kollektives Frauen-Wir“ verzichtet werden muss: Dies bedeutet – auch je individuell erlebte – „Rückschläge“ und neue theoretische wie sozialpraktische Herausforderungen. Im Aufzeigen dieses dringend notwendigen Brückenschlags zwischen feministischer Theorie und (psycho)sozialer Praxis liegt die Bedeutsamkeit der vorliegenden Arbeit: u.a. werden auch „schöne“ Begriffe wie „Authentizität, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung als neoliberale Erfolgskriterien des ‚unternehmerischen Selbst’?“ in Frage gestellt (S. 246). Insbesondere der „Schauplatz“ weiblicher Körper wird in Zehetners Arbeit als „Material“ für diese Selbstunternehmung und -inszenierung in historischer und feministischer Perspektive analysiert.
Zehetner zeigt eindrücklich, dass mit der Aufgabe traditioneller geschlechtsspezifischer (Zu)Ordnungsmuster auch Zuschreibungen von Gesundheit und Krankheit ins Wanken geraten: Eindimensionale Bilder von Geschlechtlichkeit („schwache“ respektive „kranke Weiblichkeit“, „starke“ Männlichkeit) werden in ihrem krankmachenden und kränkenden Potenzial enttarnt.
Die Literaturliste Zehetners offenbart sich als Mekka auf dieser historischen wie intellektuellen Zeitreise! Was sich in flüchtiger Ausprägung als „zwei Themen“ (feministische Theoriebildung und feministische frauenspezifische Beratungspraxis) erkennen lässt, wird bei Zehetner so konsequent zusammengedacht und reflektiert, dass kein Zurück zu altbewährten Zugehörigkeiten mehr denk- und erlebbar erscheint. Dies führt bei Zehetner keineswegs zu einer theoretischen Verlustanzeige: Sie gibt kreativen Gestaltungsspielräumen großen Raum, v.a in Bezug auf Judith Butler 1990, 2002, 2006). In Bettina Zehetners Denkverbindung von (gender)diskurstheoretischer Analyse mit sozialkritischen Perspektiven werden die Auswirkungen dominanter und prägender kultureller Symbole und bedeutender Praxen (u.a. in Bezugnahme auf Foucault) entschlüsselt und in Frage gestellt: Affirmative Selbstbehauptung und vernichtende Auflösung dichotomer Zuordnungsmuster (weiblich/ männlich, gesund/ krank) verunsichern nur dann, wenn Beratungspraxis gängige Stereotype „in Gang“ respektive in Schwung bringen und erhalten will. Dagegen spricht sich Zehetner in ihrer Arbeit vehement aus: Ein schmaler Grat zwischen (gender)theoretischer De-/Stabilisierung im je individuellen Beratungskontext löst einen persönlichen und gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozess aus: „(D)ie emanzipatorische Intention feministischer Beratung – und gesellschaftskritischer Sozialarbeit – (besteht) darin, Mut zur Eigenwilligkeit und zum Sich-Wehren gegen verletzende und diskriminierende Behandlung zu machen als Alternative zur Anpassung an bestehende, krankmachende Verhältnisse.“ (S. 219). Ihre philosophische Ausbildung und kritische Positionierung als feministische Beraterin führt Bettina Zehetner logisch schlüssig und in Bezugnahme auf Falldarstellungen aus der Beratungspraxis (u.a. zu Trennung und Scheidung) zusammen: Ausgehend vom Körper als Oberfläche von Zeichen bis zu inneren (Vor)„Einstellungen“ in patriarchaler Entwicklungslogik bleibt in ihrer profunden Analyse kein traditioneller Markstein auf dem anderen: In dieser konsequenten Aufgabe von geschlechterkonstanten Tradierungen liegt die Überzeugungskraft ihrer Arbeit: Bettina Zehetner liefert hiermit über „state of the art“ in der feministische Theoriebildung hinaus ein wichtiges Grundlagenwerk für Beratung, Psychotherapie und Medizin.
GERLINDE MAURER