Laut einer groß angelegten Studie der EU-Abteilung für Grundrechte erfährt jede 3. Frau in Europa mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner oder Expartner (https://fra.europa.eu/de/publication/2014/gewalt-gegen-frauen-eine-eu-weite-erhebung-ergebnisse-auf-einen-blick).
Wie erleben Gewaltopfer das Handeln von Polizei und Justiz bei der strafrechtlichen Verfolgung des Täters in Österreich?
Die Autorinnen Birgitt Haller und Helga Amesberger untersuchen Unterstützungsangebote und Schutzmaßnahmen zu Beginn der Strafverfolgung, bei der Anzeigeerstattung, während der Ermittlungsphase durch die Staatsanwaltschaft und bei Gericht. Sie analysieren Tagebücher der Staatsanwaltschaft, Interviews mit Expert_innen aus Polizei, Justiz und Opferschutzeinrichtungen sowie Interviews mit Gewaltopfern und ziehen daraus das Fazit, Opferrechte werden in Österreich weithin respektiert und umfangreiche Schutzmaßnahmen angeboten. Allerdings gibt es dringlichen Verbesserungsbedarf in folgenden Bereichen:
Verstehen und Verstandenwerden ist für nicht muttersprachlich Deutsch sprechende Opfer nicht ausreichend gewährleistet. Es wurden vor allem von der Polizei häufig keine Dolmetscher_innen hinzugezogen, Aufregung und Stress beeinträchtigten zusätzlich das Sprachverständnis. In sämtlichen ausgewerteten Gerichtsunterlagen fand sich nur ein einziger Hinweis, dass ein Schriftstück, in diesem Fall ein Strafantrag, übersetzt wurde. Kein einziges Polizeiprotokoll, kein Strafantrag, keine Ladung zu Gericht und kein Urteil wurde übersetzt.
Informationsrechte
Die Informationen über Rechte und Unterstützungsmöglichkeiten der Opfer werden in sehr unterschiedlichem Umfang und unterschiedlicher Verständlichkeit gegeben, spezialisierte Beamt_innen informieren klarer und deutlicher (zB über die Bedeutung medizinischer Spurensicherung). Bei der Verhängung eines Betretungsverbots oder der Entlassung des Gefährders aus der Haft gibt es Lücken und ein erhöhtes Gefährdungsrisiko bei mangelnder Informationsweitergabe an das Opfer. Alle Informationen sollten unbedingt mündlich und schriftlich und bei Bedarf in der Muttersprache des Opfers zur Verfügung gestellt werden.
Rechtliches Gehör
Opfer beklagen, dass häufig vorliegende Beweise (Verletzungsfotos, medizinische Befunde oder Stalking-SMS) von der Richterin/ dem Richter ignoriert wurden und ihre Aussagen in ihrer Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen wurden. Sie beklagten, von Richter_innen nicht gegrüßt, nicht angesehen, angeschrien, lächerlich gemacht worden zu sein, einige erlebten sich „wie als Beschuldigte“ behandelt. Hier ist ein respektvoller Umgang mit den Opfern unbedingte Notwendigkeit, Schulungen für Richter_innen zu den psychischen Folgen von Gewalt und Trauma sowie zur Gesprächsführung sind dringend zu empfehlen.
Unterstützung
Die Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie wird in ihrem proaktiven Vorgehen sehr begrüßt und als überaus unterstützend erlebt. Fast alle betroffenen Opfer, bei denen eine Wegweisung des Täters ausgesprochen wurde, wurden von den Expertinnen der Interventionsstelle erreicht. Allerdings gab es nur für rund zehn Prozent der Opfer psychosoziale (und juristische) Prozessbegleitung. Hier ist Österreich restriktiver als die EU-Opferschutzrichtlinie, die allen Opfern von Straftaten das Recht auf Unterstützung zuerkennt. Hier ist eine Ausweitung der Mittel dringend nötig.
Schutz
Vier der zehn interviewten Opfer machten die Erfahrung, dass die Polizei erst nach wiederholten Hilferufen ein Betretungsverbot aussprach. Bei Anzeigen, die das Opfer erst am Tag nach dem Übergriff erstatten wollte, weigerte sich die Polizei zunächst, sie aufzunehmen. Polizei und Opferschutz kritisieren die seltene Verhängung von Untersuchungshaft, die bei Hochrisikofällen den einzigen wirklichen Schutz darstellen im Gegensatz zum bloßen Betretungsverbot, das viele Gefährder nicht einhalten. Außerdem fehlt bei der Staatsanwaltschaft ein standardisiertes Instrument für die Risikoeinschätzung. Dem Wunsch, in Abwesenheit vom Gewalttäter auszusagen, wurde häufig nicht entsprochen.
Bei den 70 untersuchten Verfahren erfolgte nur eine einzige Zuweisung zu einem Anti-Gewalt-Training. Opferschutzexpert_innen und Polizei kritisieren, dass Anti-Gewalt-Training, Alkoholentzug und Bewährungshilfe bei Partnergewalt viel zu selten angeordnet würden.
BETTINA ZEHETNER