Gerald Posselt, Tatjana Schönwälder-Kuntze, Sergej Seitz (Hg.)

Judith Butlers Philosophie des Politischen

Kritische Lektüren

Menschliche Verletzlichkeit als Basis für Solidarität und Widerständigkeit

„Eine Voraussetzung in Frage zu stellen, ist nicht das gleiche, wie sie abzuschaffen; vielmehr bedeutet es, sie von ihren metaphysischen Behausungen zu befreien, damit verständlich wird, welche politischen Interessen in und durch diese metaphysische Platzierung abgesichert wurden.“
(Judith Butler: Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ‚Postmoderne’, in: Benhabib, Seyla et al: Der Streit um Differenz. Frankfurt/M. 1993, 56)

Für Judith Butler stellt das Entwickeln von Theorie eine Form politischer Praxis dar. Welche Begriffe wir verwenden, welche Normen wir als gegeben voraussetzen, welchen institutionellen Bedingungen wir gehorchen müssen, wie Theorien für politische Zwecke angeeignet werden – all das sind Voraussetzungen, die wir uns bewusst machen müssen. Butlers Denken lässt sich somit als (Re-)Politisierung der Philosophie begreifen. Die Rolle der Theorie treibenden Person und ihre Verstrickung in Machtverhältnisse (Sozialisation, Institutionen) wird explizit in die Analyse miteinbezogen, Gesellschaftskritik kann niemals von einem neutralen, „objektiven“, gottgleichen Außenstandpunkt erfolgen. Dies bedeutet konsequentes und beständiges sich immer wieder selbst in Frage stellen – eine manchmal anstrengende, jedoch notwendige und lohnende Selbstkritik, um im eigenen Denken beweglich und lebendig zu bleiben. Butler befragt Prämissen und Schlüsselbegriffe wie Subjekt, Identität, Autonomie, Souveränität, Repräsentation, Macht und Handlungsfähigkeit und setzt einem fundamentalistischen Verständnisses der klassischen politischen Philosophie kontingente Grundlagen entgegen. Sie zeigt auf, dass diese Grundlagen des politischen Denkens zwar unverzichtbar sind, jedoch keinesfalls notwendig vorgegeben, sondern selbst Schauplatz notwendiger politischer Neuverhandlungen. Der vorausgesetzte Subjektbegriff (klar definiert und abgegrenzt von „anderen“, rational, souverän handlungsfähig) erscheint Butler an sich selbst „politisch hinterhältig“, weil er Universalität verspricht, wenngleich er durch Ausschlussmechanismen erzeugt worden ist. Das „stabile Subjekt“ oder die Kategorie „Frauen“ als normativ unhinterfragten Ausgangspunkt festzulegen erscheint als „autoritäre List“. Politische Subjektivität und Handlungsfähigkeit entsteht vielmehr erst im komplexen Zusammenspiel von Machtstrukturen, Anerkennungsverhältnissen, Normenrastern und Begehrensformationen (Wer darf wo sprechen, wer wird gehört?). Im Gegensatz zum Infragestellungsverbot plädiert Butler für ein unbedingtes Infragestellungsgebot, also für beständige kritische Selbstbefragung der eigenen Begriffe, Konzeptionen und Voraussetzungen, um lebendig und im Dialog zu bleiben und nicht vorschnell unproduktive Fest-Stellungen zu zementieren. Den Herstellungsprozess der scheinbar nicht kritisierbaren Begriffe zu untersuchen schärft das Potenzial der Selbstkritik und eröffnet neue Weisen, politische Theorie und Praxis zu denken, jenseits traditioneller Identitäts- und Repräsentationspolitik.

Angesichts der zunehmend prekären Verhältnisse, in denen Menschen leben und Widerstand leisten plädiert Butler für eine Politisierung des Körpers und eine Verkörperlichung der Politik. Sie stellt die Frage nach den Grundlagen gerechter Verteilung von Anerkennung, Macht und Ressourcen und rückt die unhintergehbare Abhängigkeit jeder unserer Handlungen von körperlichen und materiellen Bedingungen in den Fokus: Körper gehen auf die Straße, versammeln sich, setzen sich Polizeigewalt aus und zeigen sich in all ihrer Verletzlichkeit als Widerständige – am Tahrir Platz in Kairo ebenso wie im Gezi-Park in Istanbul, in Griechenland und Spanien ebenso wie anlässlich Occupy Wall Street oder täglich an nationalen Grenzen.

Tatjana Schönwälder-Kuntze fragt nach dem politischen Gewicht philosophischer Methoden, Gerald Posselt bietet einen fundierten Einblick in die Entwicklung von Butlers vielschichtiger Konzeption politischer Performativität von „Unbehagen der Geschlechter“ bis zu „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“. Sergej Seitz beleuchtet Butlers Denken der Alterität zwischen Ethik und Politik, Hanna Meißner betont die kritische Kraft der Phantasie, die es erlaubt, das Mögliche in Überschreitung des Realen zu etablieren und Heike Kämpf geht dem aufbegehrenden Subjekt der Ent-Unterwerfung nach. Weitere Autor_innen des Sammelbandes: Matthias Flatscher, Florian Pistrol, Marìa do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Julia Prager, Andreas Oberprantacher, Hans-Martin Schönherr-Mann und Gerhard Thonhauser. Den Band beschließt ein Artikel von Judith Butler zur politischen Philosophie bei Freud und seinen Gedanken zu Krieg, Zerstörung (Todestrieb) und der Fähigkeit zu Kritik, in dem sie sich anhand eines Briefwechsels zwischen Freud und Einstein mit Freuds Text „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ sowie der potenziellen Destruktivität des Über-Ich auseinandersetzt. Das Finale bildet ein Gespräch mit Judith Butler, das die Themen von Körperlichkeit und Vulnerabilität im Politischen behandelt und sich sehr gut als Einstieg in den vorliegenden Sammelband sowie in Judith Butlers Denken eignet.

Fazit: Dieser empfehlenswerte Sammelband behandelt das Verhältnis von Philosophie, Theorie und politischer Praxis, die Konstitution politischer Subjektivität, die Möglichekeiten politischer Handlungsfähigkeit und das emanzipatorische Potenzial performativer Körperpraktiken. Die transformative Kraft von Butlers Denken wird in den einzelnen Artikeln eindrucksvoll weitergeführt.

Zum Weiterlesen: Judith Butler, Zeynep Gambetti, Leticia Sabsay (Hg.): Vulnerability in Resistance. Durham/London: Duke University Press 2016

BETTINA ZEHETNER

Judith Butlers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren

Bielefeld 2018, transcript Verlag