Hermstory: Hinter den Kulissen der binären Geschlechterwelt
In einer Gesellschaft, die sich an der Norm der Zweigeschlechtlichkeit orientiert, ist die Medizin die Königin der Wissenschaften, da sie sich zu bestimmen anmaßt, was normal und gesund und was krank und behandlungsbedürftig ist. Alltägliche Praxis ist nach wie vor die chirurgische und hormonelle „Vereindeutigung“ nicht eindeutig männlich oder weiblich geborener Kinder kurz nach der Geburt, um kein „beides“ und kein „dazwischen“ gelten zu lassen. Seit 1. November 2013 ist es in Deutschland möglich, die Geschlechtsbezeichnung in der Geburtsurkunde und somit im Personenstandsverzeichnis freizulassen. Der Beginn einer Gesellschaft ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts? Dieser Gedanke wird kontrovers diskutiert. Es bietet sich darum an, Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen. Diese Sammlung von Erfahrungsberichten, Expert_innenkommentaren und künstlerischen Darstellungen gibt Einblicke in die Lebenswelt geschlechtlich vielfältiger Menschen, Intersexueller, die nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordenbar sind – und sich dieser Entweder-Oder-Zuweisung oft auch bewusst widerständig entziehen wollen. Etwa Frauen*, die ihren Bart nicht mehr verstecken wollen.
Die Beiträge sind verfasst von Theoretiker_innen und Aktivist_innen, vor allem aber von intersexuellen Menschen selbst, die über Ihre Sozialisation und Ihre Erfahrungen mit dem medizinischen System erzählen. In Aktionen wie „Visibly Intersex“ und „Global Free Hugs with Intersex-Movement“ geht es um das Sichtbarmachen von vielfältigen Identitäts-, Lebens- und Ausdrucksformen von Geschlecht – die Chance, sich selbst vielfältiger wahrzunehmen bietet mehr Gestaltungsfreiheit auch des eigenen Lebens. Mit Judith Butler gedacht, sind wir alle in unserer Weiblichkeit und Männlichkeit uneindeutiger als wir es wahrhaben wollen. Dieses Potenzial der Unbestimmtheit kann uns beweglicher machen und neue Perspektiven eröffnen.
Ergänzt wird der Sammelband durch ein Glossar sowie ein Verzeichnis von Organisationen und Netzwerken, die Informationen zum Thema Intersexualität sammeln und zur Verfügung stellen. Insgesamt ein Band, der einmal mehr deutlich macht, wie durch und durch politisch das angeblich Privat-Persönliche ist.
BETTINA ZEHETNER