TikTokTanz – Strategien gegen Gewalt an Frauen* und Mädchen* im Internet
Mädchen* tanzen zu den aggressiven Sprachnachrichten ihres Ex-Freundes auf TikTok – eine von vielen kreativen und subversiven Aneignungen des digitalen Raums.
Digitale Gewalt passiert nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch in privaten Beziehungen. Sie hat in Kombination mit häuslicher und sexualisierter Gewalt eine klare geschlechtsspezifische Komponente und stellt hier meist eine Ergänzung und Verstärkung von analogen Gewaltverhältnissen in real life dar – etwa Online-Stalking als Kontrolle, Machtdemonstration und Einschüchterung der Partnerin, um sie vom Beziehungsabbruch abzuhalten oder als Rache an der Ex-Partnerin für die Kränkung durch die Trennung. Gewaltformen wie Online-Stalking, Online-Belästigung und -Bedrohung, Doxing und Hate Speech nehmen an Häufigkeit und Intensität beständig zu. Die Beiträge diskutieren juristische, technische und aktivistische Interventionen und thematisieren Erfahrungen aus der Beratungspraxis.
Dieser Sammelband vereint die differenzierte Analyse unterschiedlicher Formen geschlechtsspezifischer Gewalt im Internet mit konkret hilfreichen Empfehlungen zur Prävention und zum Schutz vor Übergriffen im World Wide Web – und das alles aus konsequent feministischer und intersektionaler Perspektive.
Deutlich wird dabei, dass es um politischen Veränderungsbedarf geht, denn nur mit konsequenter Berücksichtigung der Kategorie geschlechtsspezifische Gewalt kann die Internet-Nutzung demokratischer und diskriminierungsfreier werden – Stichwort Gleichstellung im Kontext Digitalisierung sowie Verantwortlichkeit von Plattformbetreiber*innen und Internetunternehmen.
Aus der Fülle spannender Beiträge seien folgende exemplarisch genannt:
“Digitale Erste Hilfe und Sicherheitsprinzipien für Berater*innen bei digitaler Gewalt” sowie “Effektiver Schutz vor digitaler geschlechtsspezifischer Gewalt” (Best practice – Beispiele: NNEDV – National Network to End Domestic Violence and the Safety Net Project, USA; Hamara Internet, Pakistan; International Coalition Against Stalkerware; Cornell Tech; eSafety Commissioner, Australien; #NetzCourage, Schweiz; HateAid, Deutschland) sowie der Info-Folder der Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt: Download: FNR-Broschuere-Digitale-Gewalt-2017-06.pdf
Aus den “Erfahrungen mit der Beratung von betroffenen Mädchen und Frauen” ist es wichtig zu vermitteln, dass “digitale Angriffe nicht in einem rechtsfreien Raum stattfinden, dass Abwarten und Stillhalten eine Strategie darstellt, die vor allem dem*der Angreifer*in zuspielt und dass es auch in den Fällen, in denen ein strafrechtliches oder zivilrechtliches Vorgehen nicht möglich ist oder nicht gewünscht wird, Wege gibt, sich zur Wehr zu setzen.” (S. 197f.)
Die Bewältigung von Gewalterfahrungen kann einen emanzipatorischen Prozess darstellen. Folgende individuelle Bewältigungsstrategien werden beschrieben: “Digitale Gewalt benennen und proaktiv erklären, Veröffentlichung digitaler Gewalterfahrungen (im Internet), Shaming, Technische Kompetenzerweiterung, Online-Ablenkung bei physischer Verfolgung, Fluten, Gegenrede und gemeinsame Hashtags (#IchBinHier, #Aufschrei, #NiUnaMenos, #WirSindViele, #SayHerName, #WasIhrNichtSeht,#MeQueer, #MyBodyIsNotYourPorn, @antiflirting2), Pause machen: (vorübergehender) Rückzug aus dem digitalen Raum, Selbstbestimmter Umgang mit digitaler Gewalt” (S. 243ff.).
Die Autor*innen wollen dem Rückzug und Schweigen als Reaktion auf die Gewalt etwas entgegensetzen und ermutigen zur aktiven und solidarischen Aneignung des digitalen Raums durch Frauen* und Mädchen*.
Das Werk stellt einen Meilenstein in der Verbindung von emanzipatorischer Forschung und Praxis dar, ein Empowerment-Paket für mehr Awareness und Handlungsfähigkeit – leidenschaftliche Empfehlung für Betroffene, Berater*innen und Interessierte.
BETTINA ZEHETNER