Zwischen dem Heimatlichen und dem Unheimlichen:
Die Anstößigkeit der Freiheit des Anfangens
Essays bieten Freiheit und Freiheit ist eines der zentralen Themen, um die Christina Thürmer-Rohrs Denken kreist. Es ist ein kritisches, sich auch selbst immer wieder hinterfragendes Denken, das sich niemals der Illusion eines „Universalschlüssels“ für existenzielle Fragen hingibt, sondern sich im Geiste Hannah Arendts dem „immer wieder neu anfangen“ widmet. Dieser Mut und diese Beharrlichkeit zeichnen Thürmer-Rohrs Texte aus. Es ist eine Freude, sich in diesem Sammelband auf Spurensuche zu begeben und Gedanken aus ihrem Gesamtwerk noch präziser, noch leuchtender und stärker vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen („Welt in Scherben?“) nachzuvollziehen: Schweigen und Zuhören als Vorbedingung des Sprechens, Mittäterschaft und Macht, zur Ambivalenz der Opferrolle, die Stummheit der Gewalt, das Kassandra-Syndrom, Omnipotenz und totalitäres Bewusstsein, Verstehen ohne zu trauern als mögliche gelingende Gedenkkultur, ergänzt durch „Traumes-Wirren“ im Werk von Robert Schumann, das kalte Böse in Thomas Manns Doktor Faustus und Hiob – eine Geschichte anhaltender Ratlosgkeit.
So wunderbare Titel wie „Das Tröstende der Ordnung und das Gift der Fremdheit – das Gift der Ordnung und das Tröstende der Fremdheit“ lassen den behutsamen und genauen Blick der Autorin auf Differenzen und Differenzierungen, auf die notwendige Pluralität und Ambivalenz des Menschseins erahnen. „Die Anstößigkeit der Freiheit des Anfangens“ in der feministischen Kritik an den destruktiven Aspekten der bestehenden Gesellschaftsordnung bringt Thürmer-Rohr in sprachlicher Eleganz auf den Punkt. Souveränität ist nicht mit Freiheit zu verwechseln. Macht entsteht zwischen Menschen, sobald sie gemeinsam handeln. Handeln heißt anfangen können. Handlungsfreiheit entsteht zwischen Menschen, die Geflechte, die sich daraus ergeben sind mit Arendt als das Wesen des Politischen zu begreifen. Was daraus wird, wissen wir nie und es geht darum, im vollen Bewusstsein dieser Fehlbarkeit Verantwortung zu übernehmen und miteinander die Welt zu gestalten, Neues in die Welt zu bringen. Unsere Begrenztheit ist für Christina Thürmer-Rohr erhellenderweise kein Anlass zur Klage „Verstrickungen sind selbstverständliche Bedingungen des Anfangens. Alle Anfänge verstricken sich, indem sie einen Faden in ein vorhandenes Netz von Beziehungen schlagen. Diese Metapher, die „Verstrickung“ nicht als fehlerhaftes Verheddern, sondern als Hineinhandeln in ein vorhandenes Gewebe versteht, hat etwas Tröstliches und Dämpfendes zugleich. Getanes kann nicht ungeschehen gemacht werden, nicht einmal durch die großen Mächte des Vergessens und Verwirrens. Die von Menschen gemachte Welt nimmt Unerwartetes auf, und lässt sich nicht austauschen.“ (S. 39f.). Das Anfangen verlangt eine nicht-familiale, eine weltbezogene Zwischenmenschlichkeit. Das Immer-wieder-Anfangen verlangt einen Bruch mit dem Kontinuum der Kolonialisierung, des Gleichmachens und des Überflüssigmachens von Menschen (vgl. S. 41).
Deutlich wird Thürmer-Rohrs Plädoyer für eine Anfreundung mit der Welt – auch und gerade einer Welt, die manchmal in Scherben zu liegen scheint, für einen lebendigen, politischen Freundschaftsbegriff als Akzeptanz der „unheilbaren Pluralität“ (Zygmunt Bauman) des Menschen: Freundschaften sind wählerisch, gewählte Verbindungen, Wahlverwandtschaften statt biologischer Verwandtschaft – damit auch die Fiktion eines „heilen“ Geschlechts oder einer einheitlichen Nation transzendierend. Jenseits eindeutiger Ergebnisse, die mit ihren end-gültigen Antworten das Nach-Denken und Nach-Fragen stillstellen würden, bildet den Abschluss ein berührend persönlicher Text zum Thema Vergänglichkeit: „Ich finde keinen Schluss. Es gibt keinen Schluss.“
Ganz große Empfehlung!
BETTINA ZEHETNER