Feministische Kontrapunkte gegen neoliberale Vereinzelung
Frauenbewegungen und Feminismen in Praxis und Theorie sind die Themen des Sammelbands anlässlich des 100. Jahrestags der März-Demonstration für Frauenrechte auf der Wiener Ringstrasse.
Zwischen Historischem zum Frauentag und Visionen für die Zukunft spannen die Autorinnen ihren Bogen: Feministische politische Praxen von Frauendemos, Aktionen und Interventionen über Öffentlichkeitsarbeit – Feminismus im Netz: http://zwanzigtausendfrauen.at/ – bis hin zu den Ladyfesten. Sehr fein auch das Guerilla-Strickerinnen-Cover.
Besonders spannend: Christina Thürmer-Rohrs Beitrag „Ende des Kassandra-Syndroms? Die Tragödie des Schweigens und die Rückeroberung der Sprache“. In diesem Text untersucht sie die Kritik an der strukturellen Gewalt patriarchaler Logik als Fundament feministischer Theorie und Praxis. Welche Bedeutungen hatten und haben Gewaltkritik, Opferkritik, Mittäterschaft? Und welche Bedeutungen wollen wir diesen Analyseinstrumenten in Zukunft geben? Gewalt bringt zum Schweigen, anders als die Macht ist sie nicht angewiesen auf Zustimmung. Der Geschichte des Schweigens von Frauen wird das Potenzial des Zur-Sprache-Bringens entgegengestellt, des radikalen Infragestellens von Ungleichheitsproduktion und scheinbar naturgegebener Normen: Sprache als Handlungsmacht. Das Bewusstsein gemeinsamer Verwundbarkeit durch Gewalt kann die Basis einer neuen Ethik bilden wie auch Judith Butler sie entwirft.
Birge Krondorfers Reflexionen verdeutlichen, dass „durch das Sprechen die Dinge nicht einfach/er, sondern widersprüchlicher und damit mannigfaltiger (werden) und dabei kann es niemals um ein fertiges Ergebnis gehen, denn dieser Prozess impliziert die Erkenntnis, dass ein Weiterkommen ein immer wieder Anfangen bedeutet.“ (S. 363f.). Mit Bezug auf Hannah Arendt zeigt Krondorfer das besonders im westlichen Feminismus häufige Missverständnis auf, Autonomie verkürzt als bloßes Recht auf individuelle Wahlmöglichkeiten – ein „Appell wider Selbstdogmatisierungen und für Selbstüberschreitungen einer jeden Positionierung (…) Denn aufgefordert zu hörbarer Systemkritik und aufmerksamer Selbsteinsicht in widersprüchliche Verstrickungen sind wir – alle.“ (S. 370).
Der Band bietet in seiner beeindruckenden Vielstimmigkeit Anregungen zur Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen feministischen Szenen und zu (selbst)reflexiver Theoriebildung. Hier wird deutlich: Feministische Analysen schärfen den Blick auf die Welt.
Mit Beiträgen von Autorinnen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz: Christina Thürmer-Rohr, Tove Soiland, Kornelia Hauser, Brigitte Rauschenbach, Irmtraud Voglmayr, Petra Unger, Ulrike Weish, Ursula Kubes-Hofmann, Heidemarie Ambrosch, Luzenir Caixeta, Monika Jarosch und Gisela Notz.
BETTINA ZEHETNER