FrauenSzenen MännerSzenen
„Die Psychotherapie befasst sich nicht nur mit individuellem Leiden, sondern auch mit den Leiden der Gesellschaft. (…) Gendergerechte Psychotherapie kann in die Gesellschaft hineinwirken, mitgestalten und verändern.“ (Manuela Klein, S. 116).
Sabine Kern und Sabine Spitzer-Prochazka haben einen reichhaltigen Sammelband zum produktiven Spannungsfeld Geschlecht und Psychotherapie herausgegeben. Die intensive Reflexion vieler Psychodramatiker_innen zum Themenkomplex „Doing Gender“ bietet Einblick in Theorie und Praxis von Psychodrama und Soziometrie, die unterschiedlichsten kreativen Ansätze und Lösungen machen das Lesen zur Freude.
Die einzelnen Artikel verdeutlichen, wie einengend und krankmachend die konventionellen Geschlechterstereotypen und Rollenkonserven für beide Geschlechter wirken. Brigitte Schigl zeigt, wie gesundheitsförderlich eine „androgyne Nachsozialisation“ der jeweils gegengeschlechtlichen Anteile in Ausdrucks- und Verhaltensweisen sowohl für Frauen als auch für Männer sein kann – eine erfrischende Erweiterung in der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsfreiheit.
Gabriele Kastner spricht in Anlehnung an Raewyn Cornells Konzept der hegemonialen Männlichkeit vom „anorektischen Subdominanzprinzip“ unter Frauen. Ähnlich den männlichen Wettbewerbsspielen halten Frauen sich gegenseitig in Schach, entwerten und verletzen sich als „Mittäterinnen“ (Christina Thürmer-Rohr) der patriarchalen Ordnung, die immer noch in unseren Köpfen steckt. Subdominant bezeichnet unterschwellig aggressiv und dadurch selbstschädigend die eigene Position zu verteidigen, in Konkurrenz- und Selbstdisziplinierungsritualen. Ein probates Mittel dagegen stellen Frauengruppen dar, in denen die Kultur des Sich-Zeigens und Einander-Wertschätzens unter Frauen* in all ihrer Unterschiedlichkeit erlernt werden kann.
Ernst Silbermayr plädiert für Geschlechtervielfalt und die Anerkennung von Trans-Identitäten. Pointiert fragt er, warum in Anlehnung an die DSM V – Diagnosekategorie „Gender-Dysphoria“ nicht auch die Diagnosen „Migrations-Dysphorie“, „Armuts-Dysphorie“ oder „Adipositas-Dysphorie“ Verwendung finden könnten, da doch auch hier die Symptome Unbehagen, Traurigkeit, ängstliche Bedrücktheit und Gereiztheit vorkommen. Hier wird die problematische Individualisierung sozialer Problemlagen deutlich: Warum stellen wir nicht lieber eine krankmachende Gesellschafts- und Geschlechterordnung in Frage, anstatt einzelne Personen, die darunter leiden, zu pathologisieren?
Ganz praxisnah wird es bei Katharina Novy, Michael Gümbel und Annette Stöber: „Feministische Wirtschaftsalphabetisierung mit Psychodrama“ und „Psychodramatisches Werkzeug für Gender-Settings“ bieten konkrete Beispiele für Übungen und Spiel-Szenen, die Reflexion und Weiterentwicklung von Geschlechterrollen anregen. Rollenerwartungen und –bewertungen werden im Spielen bewusst und es entsteht Lust auf Veränderung, Erweiterung der eigenen und gemeinsamen Handlungsspielräume.
Hildegard Knapp nähert sich dem Themenkomplex Trauma und Geschlecht. In Bearbeitungsprozessen geht es bei Frauen darum, dass sie ihre Stärken entwickeln und ihre überwältigenden Gefühle wieder „in den Griff bekommen“ und bei Männern darum, dass sie lernen ihre Schwäche und Verletzbarkeit anzuerkennen. Auch sie kommt zum Schluss, dass eine Kombination aus „femininen“ und „maskulinen“ Eigenschaften für alle Geschlechter als besonders gesundheitsfördernd beurteilt werden können.
Fazit: Eine lebendige, vielfältige und überaus spannende Textsammlung zum Thema Gender und Psychotherapie/Beratung – ich wünsche den Autor_innen dass Ihre inspirierenden Gedanken und Fallgeschichten als emanzipatorische gesellschaftliche Praxis wirksam werden.
BETTINA ZEHETNER