Selbstbestimmte Einsamkeit oder ein Zimmer für sich allein
Sarah Diehl denkt Alleinsein nicht als defizitäreIsolation, sondern als positive Möglichkeit für Reflexion und Autonomie, nicht als lähmende Trostlosigkeit, sondern als komplexes und lustvolles Phänomen der Selbst-Entdeckung und Selbst-Fürsorge.
Der heutige Strudel aus Karriere- und Familienplanung verhindert, ein gutes Verhältnis zum Alleinsein zu finden. Ein solches ist aber notwendig, um Distanz zu äußeren Erwartungshaltungen zu entwickeln, zu sich selbst zu kommen, selbständig zu urteilen und das zu entdecken, was einer selbst wichtig ist.
Die Vereinsamung begann mit der Kleinfamilie, die nun als Heilmittel gegen Einsamkeit angepriesen wird. In ihr haben wir gelernt, dass wir nur für die kleinstmögliche Gruppe verantwortlich sind und Fürsorge wie unsichtbar nur von einer Person geleistet wird, statt von allen getragen zu werden. Sarah Diehl fordert uns als Gesellschaft auf, neue Antworten auf Verteilungsfragen rund um Elternschaft und Care-Arbeit zu finden, damit sich auch Frauen Zeit und Raum für selbstbestimmtes Für-sich-Sein zugestehen. Gerade Frauen können von selbstbestimmtem Alleinsein profitieren, denn die Strukturen unserer patriarchalen Kultur tendieren immer noch dazu, ihre Unabhängigkeit und ihr Selbstwertgefühl einzuschränken. Die Aufwertung selbstbestimmter Einsamkeit kann helfen, Ängste abzulegen und das Leben mehr nach den eigenen Wünschen zu gestalten.
Wieviel Enttäuschung und Leid aus der vermeintlichen Glücks-Konserve Zweierbeziehung entsteht, zeigt sich in der Frauen*beratung täglich. Und auch wie selten Frauen sich selbstbestimmtes Alleinsein als Ressource gönnen. Frauen haben perfekt gelernt, für andere da zu sein. Für sich selbst da zu sein, aus freien Stücken mit sich allein zu sein, erlauben sich die wenigsten. Eine Beratungsstunde „ganz für mich allein“ wird als „Luxus“ gesehen, darf frau sowas überhaupt beanspruchen?
Die Alternative zum Verharren in Beziehungen, die längst nicht mehr gut tun, ist die Anerkennungunterschiedlicher Lebensmodelle, größerer Sorge-Gemeinschaften, aber auch die Aufwertung des Alleinseins. Die Autorin hat in ihren vielfältigen Forschungen und Gesprächen mit Menschen, die freiwillig Einsamkeit wählen, das Alleinsein als Erkundung der Verbundenheit erfahren: „Alleinsein ist nämlich nicht (nur) die Abwesenheit von etwas oder jemand anderem, sondern die Anwesenheit meiner ungestörten Wahrnehmung, die mich mit der Welt verbindet.“
BETTINA ZEHETNER