Feministische Philosophie und der Eigensinn des Erlebens
Der Leib ist die Voraussetzung aller Erfahrung – diese Grundthese der Phänomenologie wurde von der feministischen Philosophie kritisch weiterentwickelt. Die Herausforderung ist dabei das Zusammendenken von nur scheinbar unmittelbarem leiblichem Erleben und sozialen sowie gesellschaftspolitischen Bedingungen, der konkreten Situiertheit in der Welt (vgl. Beauvoir und Iris Marion Young). Wie formen Machtverhältnisse, Normen und Diskurse unser Erleben und die Sprache, mit der wir dieses Erleben zum Ausdruck bringen? Wie verkörpern wir ganz konkret und geschlechtsspezifisch Machtverhältnisse und wie ist der vielfältige Zusammenhang von sozialen Praktiken und leiblichem embodiment zu fassen? Merleau-Pontys Begriff der „intercorporéité“ ist hier fruchtbar zu machen, leider wird im vorliegenden Band wenig Bezug genommen auf sein nachgelassenes Werk „Das Sichtbare und das Unsichtbare“.
Der Abschnitt „Phänomenlogische Analysen des leiblichen Erlebens“ behandelt Körpererfahrungen während Schwangerschaft und Geburt, speziell weibliche Körperscham sowie Versuche zur Beschreibung weiblicher und männlicher Leiberfahrungen. Der zweite Teil „Verletzbarkeit, Gewalt und Dominanz als Geschlechterkonstruktionen“ befasst sich mit sexueller Gewalt, Männlichkeit sowie der Frage nach Einsatzorten politischen Wahrnehmens – Wie auf Ungerechtigkeit antworten? Hier finden sich spannende Annüpfungspunkte zu Judith Butlers Konzept der Anerkennung geteilter Verletzlichkeit als Basis für eine Ethik der Verantwortung. Im dritten Abschnitt finden in kritischer Erweiterung der Phänomenologie unterschiedliche Themen Platz, besondes spannend die phänomenologische Perspektive auf die Psychiatrie in der Sozialität von Essstörungen von Isabella Marcinski sowie „Die Kraft des Zorns. Sara Ahmeds aktivistische Post-Phänomenologie“ von Jan Slaby. Überzeugend argumentiert Marcinski wie wichtig es ist, bei psychosomatischen Symptombildungen die Dimension der Sozialität mehr als diejenige der bloßen Intersubjektivität und Familie zu berücksichtigen. Dies ist für die gesamte Psychosomatik einzufordern, da Erkrankungen immer auch gesellschaftliche Machtverhältnisse und soziale Missstände aufzeigen und aus einem gerade legitimen Symptompool (Edward Shorter) unbewusst ausgewählt werden. Ahmeds Zorn ist ein reflektierter, verstetigter, von direktem Rache- oder Vergeltungsbedürfnis losgelöster Blick. Eine intellektuelle Haltung, die als feminist killjoy die brick wall verhärteter institutioneller Rassismen und Sexismen in ihrer Selbstzufriedenheit und Selbstgenügsamkeit stören und Strukturen des subtilen und offenen Ausschlusses und der Diskriminierung aufbrechen will. Verändernde Aktion ist für Ahmed nicht trennbar von verstehend-fühlender Reaktion auf ungerechte Verhältnisse. Es geht um klares Erkennen und Benennen von Ungerechtigkeit, gespeist und gestärkt aus persönlicher Betroffenheit und Empörung sowie der Intention, gerechtere Verhältnisse, eine gerechtere Welt für alle zu schaffen. Gefühle werden hier nicht als Wahrnehmung und Erkenntnis beeinträchtigend, sondern im Gegenteil als diese ermöglichend betrachtet.
Dieser Sammelband bietet viele spannende Perspektiven auf das kontroverse Feld Phänomenologie und Feministische Theorie, die es weiterzudenken lohnt.
BETTINA ZEHETNER