Frank Nestmann, Frank Engel, Ursel Sickendiek (Hg.)

Das Handbuch der Beratung

Band 3: Neue Beratungswelten

Die bunte Fülle der Zugänge des dritten Bands des Grundlagenwerks zu Beratungstheorie und -praxis durchzieht ein roter Faden: Wie kann Beratung den Ratsuchenden Räume für neue, emanzipatorische Erzählungen eröffnen? Erzählungen, in denen hegemoniale Deutungen nicht einfach bestätigt und fortgeschrieben werden, sondern in Frage gestellt, erweitert und verschoben werden können (etwa die Normen des rigiden Entweder-Oder der dichotomen Zweigeschlechtlichkeit). Der Abschnitt „Innovative Zugänge: neue und weiterentwickelte Konzepte des Beratens“ enthält John McLeods Artikel „Beratung als narrative Praxis“ sowie Melanie Plößers Text „Poststrukturalistisches Von-sich-Erzählen“, der Judith Butlers Konzeption der performativen Gestaltung von Weiblichkeit und Männlichkeit fruchtbar für die Beratung macht. Hier vermisse ich weitere Beiträge zu aktueller feministischer Beratungsforschung, auch Artikel aus den gender studies würden sich hier anbieten.
Ursel Sickendiek fasst Diversität in der Beratung als politisches Konzept und mehrdimensionalen Ansatz, um unterschiedlichen Lebenswelten gerecht zu werden, Differenzen anzuerkennen und sich dem Ziel sozialer Gerechtigkeit anzunähern. Hier klingt Adornos Utopie „ohne Angst verschieden sein können“ an. Hier geht es auch um kulturell-gesellschaftliche Deutungsperspektiven für persönliches Leiden. Dazu erweist es sich als sinnvoll, das eigene Wissen, die eigenen Vorannahmen immer wieder einzuklammern, um offen für neue Sichtweisen zu bleiben.
Ein weiteres spannendes Thema in diesem Abschnitt: Ungewissheit, Nichtsicherheit und Zufall in der Beratung.
„Beratungssettings und –räume“ behandelt die Themen Beratung und sozialer Raum (Ruth Großmaß) und professionelle Gestaltung von offenen Settings sowie Organisationsberatung und Community Counselling. Das Kapitel „Medien und Beratung“ informiert über die Professionalisierung der Online-Beratung sowie den Einsatz mobiler Medien.
Das Finale „Kritik der Beratung – alte und neue Widersprüche“ reflektiert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Beratung heute sowie Beratung als Teil des ökonomischen Systems. Heiner Keupp beschreibt in seinem Beitrag „Fit für was? Beratung als Aktivierungsschema fürs Hamsterrad“ die Internalisierung von Normen und Ansprüchen vom Fremdzwang zum Selbstzwang, vom Körperdrill über den Fitnessdiskurs zum Burn-out und Depression und greift Bröcklings Konzept vom unternehmerischen Selbst auf und befragt die gesellschaftliche Funktion von Empowerment durch Beratung in der neoliberalen Selbstverwertungsmaschinerie.
Der letzte Abschnitt problematisiert die Ökonomisierung von Beratung sowie Beratung und Armut, Beratung im Zwangskontext, Diagnostikkritik, Beratungsforschung und Evaluation als Politik.
Der reichhaltige Band lädt Berater_innen ein zur kritischen Selbstreflexion über eigene Theorie(n) und Praxis, z.B. wie trägt Beratung zur Selbstdisziplinierung bei?
Der Anspruch der Autor_innen und Herausgeber_innen ist es, Beratung als politische Praxis sichtbar und wirksam zu machen, die zum Abbau gesellschaftlicher Ungleichheiten beiträgt. Ein bemerkenswerter Beitrag zur Professionalisierung von Beratung.

BETTINA ZEHETNER

Das Handbuch der Beratung. Band 3: Neue Beratungswelten

Tübingen 2013, dgvt Verlag