Knöpfe und Kuschelwolf – Adil sagt immer nichts
Diese Therapeutin schweigt nicht. Durch eine Grenzverletzung erlebt sie ähnliche traumatische Folgen wie die Menschen, die zu ihr kommen und Hilfe suchen. Sie ist sich selbst fremd geworden. Sie bricht ein Tabu, indem sie einer Klientin von ihrer Vergewaltigung erzählt. Sie weint vor ihr. Es schüttelt ihren ganzen Körper vor Lachen als diese meint, sie hätte dem Täter die Eier abreißen sollen.
Diese Therapeutin berührt. Ganz buchstäblich auch ihre Klient_innen, wenn das Leiden unerträglich zu werden droht. Sie streichelt und massiert Hände, um von der überwältigenden Wucht eines Traumas wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen.
Warum sie sich denn diesen Beruf ausgesucht habe, mit soviel Leid und den ganzen Narrischen, wird die Protagonistin Tina K. von ihrer Mutter gefragt. Eine mögliche Antwort gibt sich die Leserin selbst, wenn sie den Entwicklungsprozess des achtjährigen Adil erlebt, der seit dem Tod seiner Mutter nicht mehr spricht und doch jede Woche eine Stunde in ihre Praxis kommt, sich eine schützende Höhle bauen und schweigen darf. Die Szenen, wie die Therapeutin die sprachlose Trauer und die unbändige Wut über den Verlust mit-trägt und langsam, ganz vorsichtig und behutsam Methoden des Zugangs zu Adil findet und wie sie Wort für Wort Sätze findet, die für ihn etwas von seinem Schmerz und Zorn ausdrücken, hinterlassen einen starken Eindruck und bringen ein Moment der Zuversicht in das Meer an Traurigkeit.
Was wird ausgesprochen und was äußert sich körperlich, in Migräne, Druck, sich kratzen, schneiden, beißen. Es ist ein sehr körperlicher, sinnlicher Roman mit Atmen, Schmerzen, sich halten und stützen, sich einander annähern und voneinander entfernen. Tina K. riecht nach den Kamillenteebeuteln, die sie in ihr Badewasser gibt, Martha, ihre Freundin, riecht nach Kaninchenstall, sie arbeitet in einer Zoohandlung, in der sie gerne Musik von Haydn spielt, weil Haydn die Tiere beruhigt.
Was bleibt? „Ich atme ein, halte an, atme aus.“
Ein eigenwilliger und aufmüpfiger, zuweilen spröder und störrischer Roman. Ein Leseerlebnis, das die Leserin dazu anregt, ihren eigenen Roman in die knappen, manchmal rätselhaften Dialogzeilen hineinzuschreiben.
BETTINA ZEHETNER