Frauen beraten Frauen

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Buchcover Bettina Zehetner:

Reparaturprojekt Mann – Erholungsgebiet Frau.
Feministische Beratung bei Beziehungskonflikten, Trennung, Gewalterfahrung und im Umgang mit Arbeit, Geld und Körper.
Diametric Verlag. Juli 2020
https://www.diametric-verlag.de/

Ein Tatkräftiges Mutmach(Erinnen)-Buch Für Selbstbestimmte Zielsetzungen Von Frauen

Das Buch beeindruckt durch die kompetente Praxisanbindung. Es zeigt in vielen Beispielen aus der feministischen und frauenspezifischen Beratungspraxis, wie Wege aus persönlichen Krisen, die sehr viel mit dem gesellschaftlichen „Kleinmachen“ von Frauen – sei es durch geringere Bezahlung in vielen Branchen, sei es durch die be- und oftmals individuell erdrückende Last von Verantwortung für Kinder, Familienangehörige und zu Pflegende – zu tun haben. Besonders gelungen ist die Gliederung der Fülle von Aspekten quer durch verschiedene Lebensabschnitte von Frauen (u.a. Familiengründung, Berufsergreifung, weibliche Figur(en) und physisch-psychische Selbsteinschätzungen von Frauen), konkret zu Beziehungen und Trennungen, Geld und Macht, Gewalt, Körper und die Kraft des Neinsagens, die in einer sehr durchdachten Kapitelgliederung feministische Theorie(n) zur Basis eines Handbuchs für die Bewältigung von Lebens- und Sinnkrisen werden lassen. Diesen Geniestreich zu Wege zu bringen, ist den multiplen Kompetenzen und der aufschreibenden Leistung der Autorin Bettina Zehetner zu verdanken. Zehetner ist seit einigen Jahrzehnten sowohl als Lehrende an Universitäten und weiteren Bildungseinrichtungen, als auch in der Beratungspraxis bei „Frauen* beraten Frauen*“ in Wien und als Fortbildungsleiterin in der feministischen (Online-)Beratung tätig. Die dargestellten Handlungsoptionen sind nie eindimensional oder manipulativ-direktiv verfasst, sondern lassen stets eine Fülle an Möglichkeiten erkennen, wie Frauen ein „mit sich zufrieden sein“, ein eigenständiger Weg und eine eigenverantwortlicheSelbstbehauptung und Platzbeanspruchung besser ermöglicht wird (als es in einer streng zweigeteilten, geschlechterdichotomen Weltsicht mit einer Zuordnung von Frauen in die Sphäre des Häuslichen, und einer Verortung von Männern im Öffentlich-Politischen, oftmals befreit von u.a. familiären Alltagsverstrickungen, Pflege- und Sorgetätigkeiten, erleb- und denkbar ist).
Das Buch zeigt individuelle Wege und bietet (Denk)Material für das Überschreiten von vormals Frauen zugedachten Zuständigkeitsbereichen auf der Basis einer Fülle von Erfahrungswissen aus der Beratungspraxis. Die Autorin macht gleich zu Beginn klar: „Sie befinden sich ziemlich sicher in einer feministischen Beratung, wenn die Beraterin fragt, wer bei Ihnen zu Hause die Wäsche wäscht.“ (S.9). Sowie: „Sie befinden sich ziemlich sicher NICHT in einer feministischen Beratung, wenn Sie auf die Schilderung eines Gewalterlebnisses die Frage ‚Haben sie ihn irgendwie provoziert?‘ oder den Satz ‚Zum Streiten gehören immer zwei‘ hören. Im Buch wird das stete und konsequente Ziel verfolgt, über normierende Rollenzuschreibungen hinausweisende Handlungsoptionen zu eröffnen und (Wahl)Freiheiten zu ermöglichen. Theoretische Grundlagen werden sehr verständlich und klar nachvollziehbar in Verbindung mit Beispielen aus der Beratungspraxis dargestellt und bereichern das Buch mit feministischem Grundlagenwissen. Traditionelle binäre geschlechtsspezifische (Wert)Vorstellungen werden auf der Basis von Theorie(n) und von praktischem Beratungs- und Erfahrungswissen in ihrer niederdrückenden Macht (gefolgt von Ohnmachtsgefühlen) entlarvt. Vorschläge für persönliche Ermächtigung(en) werden zwar als nicht (immer) einfach im Treffen von individuellen Entscheidungen vorgestellt, jedoch als notwendige Grundlage am Weg zu neuen Freiheiten und selbstbestimmter Lebensführung. Im Denken, Erleben und Beschreiben von Gefühlen, eigenen Lebensvorstellungen und (zukünftigen) Zielen.
Das Buch eröffnet im Weiteren bildungs-, familien-, gesundheits- und sozialpolitische Fragestellungen, die insofern anstehen, als sie bessere Rahmenbedingungen für Frauen, Kinder, Familien schaffen können. Dies gilt umso mehr inPhasen von Home-Office und geschlossenen Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen in Zeiten der Covid19-Virus-Verbreitungsprävention und gesetzlich verordneten Ausgangssperren (dt. Übersetzung von Lockdown), die einen Backlash an gender-und frauenspezifischen Erwartungen begünstigt haben. Diese steten Gefahren sind im Schlusswort des Buches skizziert (S.126-128). Umso erfreulicher ist daher eine internationale Auszeichnung, die dem Beratungsteam von Frauen* beraten Frauen* zu Teil wurde: „Die Online-Beratung von Frauen* beraten Frauen‘ wurde am 6. April 2020 als internationales best-practice Beispiel bei häuslicher Gewalt in Zeiten der Corona-Quarantäne in den Abendnachrichten des japanischen Nationalfernsehens genannt.“ (S. 127).
Dass eine Mitarbeiterin dieses unermüdlich wirkenden und werkenden (Beratungs-)Teams nun auch einhoch relevantes, alltags- und lebenspraktisches Handbuch für Frauen veröffentlicht hat, ist ein weiterer Beleg für die hohe Kompetenz von frauenspezifischer und feministischer Beratung in Wien und in Österreich. Chapeau!

Gerlinde Mauerer

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Bettina Zehetner: Reparaturprojekt Mann. Erholungsgebiet Frau. Frauen beraten Frauen. Feministische psychosoziale Beratung bei Beziehungskonflikten, Gewalterfahrung, Trennung und im Umgang mit Arbeit, Geld und Körper. Verlag Diametric. Juli 2020.
Print ISBN 9783938580745 18,90.- Euro (D)
eBook 9783938580653, 12,90.- Euro.




Einladung zur Eigensinnigkeit

Eigentlich habe ich mir abgewöhnt, in Angelegenheiten meines Lebens andere Frauen* um Rat zu fragen. Allzu oft haben solche Gespräche in mir erneut jene Seiten zum Klingen gebracht, gegen die ich mich ein Leben lang zur Wehr gesetzt habe: unhinterfragte Normen, gegen die ich aufbegehrt habe, implizite Vorstellungen von Weiblichkeit, die ich als Einschränkung erlebte, gesellschaftliche Erwartungen, in denen ich mich nicht wiederfand, Glücksverheißungen, die ich als Zumutung empfand. Die Klaviatur traditioneller Weiblichkeit mit ihren widersprüchlichen Normen und Anforderungen ist tief in uns verankert, auch dann, wenn frau von jung auf versucht, eine andere Melodie zu spielen, die Melodie zu erweitern, abzuändern und das alte Lied vom Frau-Sein nicht zu wiederholen. Allzu häufig waren solche Ratschläge ein Crashkurs im Einmaleins des Frau-Seins: mehr erdulden, mehr zurückstecken, mehr Engagement zeigen, empathischer sein, weniger erwarten, mehr aushalten lernen, patriarchale Vorgesetzte hinnehmen, nicht immer alles „persönlich“ nehmen, nicht zu viel auf einmal wollen, nicht zu ehrgeizig sein, sich begnügen. Manchmal waren sie subtil, manchmal direkt. Meistens aber waren sie mächtige soziale Platzanweiser und wiesen einen in die Schranken. Und am Ende blieb der Eindruck, dass die eigene Eigenwilligkeit der Grund für das Straucheln ist. Dass der Fehler in einem selbst liegt, ja womöglich sogar, dass frau selbst der Fehler ist. Frau beginnt, sich selbst infrage zu stellen, ihrer eigenen Wahrnehmung zu misstrauen.

Frau suche sich ihre Ratgeberinnen also gut aus. Bettina Zehetners Buch „Reparaturprojekt Mann, Erholungsgebiet Frau“, das im Mai 2020 im Diametric Verlag erschienen ist, kann eine solche Ratgeberin sein. In Zeiten der Verunsicherung, der Krise, der Erschöpfung, der Einsamkeitoder der Hilflosigkeit gibt es Kraft und Orientierung. In klarer und äußerst zugänglicher Sprache steckt Zehetner jene Lebensbereiche ab, die auch im Jahr 2020 immer noch zu den häufigsten Stolpersteinen weiblicher Biografien werden: Beziehungsgewalt, Trennung, Scheidung, geschlechtsspezifische Diskriminierung am Arbeitsmarkt, das Dilemma von Doppel- und Mehrfachbelastung durch Familie und Beruf sowiedie Themen Gesundheit und Krankheit. Dabei räumt sie mit immer noch hartnäckigen Mythen oder wieder aufgewärmten Klischees über Vergewaltigung, sexuelle Gewalt, der Ehe als Versorgungsinstitution, die berufliche Gleichstellung von Frauen und Männern sowie angeblicher medizinischer Objektivität auf und macht ganz nebenbei auch deutlich, wie diese Mythen durch das Verschweigen, Nicht-Thematisieren und Schönreden von Frauen* selbst aufrechterhalten werden.

Was dieses Werk besonders von anderen abhebt: es gibt einer das Gefühl, mit diesen Problemen nicht allein zu sein. Ganz im Gegenteil macht Zehetner deutlich, dass diese Problemfelder nicht das Ergebnis von individuellem Scheitern und Versagen sind, sondern als strukturelle Asymmetrien in die hierarchische Geschlechterordnung der Gesellschaft eingeschrieben, quasi vorprogrammiert sind. Damit wendet sich das Buch gegen den Trend der Individualisierung sozialer Schieflagen.Die Frage ist nicht „Bin ich normal?“, sondern „Ist das, was ich erlebe, normal?“ (vgl. Zehetner 2020, S. 10). Adornos berühmter Aussage „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ folgend, zeigt Zehetners Buch den Leser*innen einen Ausweg aus der Selbstbeschuldigung und dem Zwang zur Selbstoptimierungauf. Anhand zahlreicher Beispiele aus ihrer jahrelangen praktischen Arbeit in der feministischen Frauenberatung und Fortbildung wird anschaulich, welche machtvollen geschlechtsspezifischen Normen hinter unserenalltäglichen Selbstzweifeln und verinnerlichten Glaubenssätzen stecken und man merkt als Leser*in: Ich bin eine* von vielen. Immer wieder lädt Zehetner ein zum Wagnis dialektischen Denkens, denn gesellschaftliche Bedingungen von Problemen und Erkrankungen zu benennen, kann entlastend sein und eröffnet eine Handlungsfähigkeit jenseits der eigenen Zurichtung (vgl. Zehetner 2020, S. 16).

Anstatt einer neoliberalen „Alles ist möglich“-Freiheit, die in der Praxis meist in das Gefühl „nie gut genug zu sein“ mündet, zeigt das Buch eine andere Art der Freiheit auf: die Freiheit, seine eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen, auf seine eigenen Gefühle zu hören statt ständiger Gefühlskontrolle, dem eigenen Willen zu folgen statt immer nur fremden Anforderungen zu entsprechen, sich Mittelmäßigkeit zuzugestehen statt Perfektion anzustreben. Sich die Freiheit zu nehmen, einfach zu SEIN und nicht ständig die eigene Existenz durch Leistung, Arbeit und Fürsorge zu rechtfertigen. „Feministische Beratung stellt Normalitätsmaßstäbe infrage und will Lust auf Eigen-Sinn, auf eigenwilliges Verhalten machen. Dazu braucht es die Anerkennung des Selbstwerts jenseits von Leistungs- und Erfolgskategorien“, so Zehetner.
Das Schöne an diesem Buch sind eindeutig die vielen Fallbeispiele, an denen deutlich wird: die Geschichten des angeblichenScheiterns sind auch immer zugleich Geschichten einer Befreiung von einengenden gesellschaftlichen Normen und dem Zwang zum Glücklich-Sein.Vielleicht ist es genau das, was frau aus der Lektüre dieses Buches lernen kann: nicht im Durchhalten, sondern im Scheitern-Können liegt ein Weg zu sich selbst. Denn „manchmal geht es darum, sich gerade nicht von dem glücklich und zufrieden machen zu lassen, von dem uns eingeredet wird, dass es uns glücklich machen soll“ (Zehetner 2020, S. 61).
Das Buch macht Mut zu einem Denken, Fühlen und Handeln„outside the box“. Es ist eine bestärkende Stimme, die es in der weiblichen Echokammer voller Selbstzweifel, Selbstbeschuldigungen und Selbstvorwürfe dringend braucht und stellt der utopischen, erdrückenden Norm der immer glücklichen, ausgeglichen, top fitten, attraktiven, erholten, erfolgreichen und willigen „Vollzeitmutterkarrierefraugattin“ ein reales inklusives Wir gegenüber: eine Vielfalt an Frauen*, die es auf ihre je individuelle Art und Weise gewagt haben, ihren eigenen Weg zu gehen, sich von den „Realitätskiller-Idealen“ (Zehetner 2020, S.51) zu lösen und stattdessen ihre persönlichen Interessen zu entdecken, eigene Vorstellungen und Ziele zu entwickeln und einen liebevollen, großzügigen und geduldigen Umgang mit sich zu üben. „Mit der Erkenntnis, nicht die Einzige zu sein, […] lassen sich über Vernetzung und Austausch Strategien für einen kreativen Umgang mit Schwierigkeiten entwickeln, mit dem Fokus: »Es muss nicht so bleiben, es kann auch ganz anders sein!«“ (Zehetner 2020, S. 26)

Fazit: Ein wohltuender Kontrast zur gesellschaftlich verordneten weiblichen Selbstvermarktungà la „in meinem Leben ist alles perfekt“.

Stefanie Göweil




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